Werberezipienten treten mit Werbekommunikation in einen Dialog. Ob Werbung erfolgreich ist, hängt auch stark davon ab, welche Art von Beziehung sie mit einer Werbung eingehen bzw. welche Beziehung die Kommunikation den Betrachter*innen anbietet. Die Kenntnis dieser Bild-Betrachter-Beziehung erweitert auch die Möglichkeiten für die Kreation.
Haben Sie schon mal etwas von „Anthropomorphisierung“ gehört? Möchte man bei dem sperrigen Begriff gar nicht wissen, was das ist. Ganz einfach gesprochen: Als Mensch geht man immer von seiner menschlichen Lebenswirklichkeit aus. Wie fühlt sich ein Tiger im Zoo oder eine Pflanze auf dem Balkon? Naheliegend ist: Der Tiger fühlt sich wie ich, wenn ich ein Zoo-Tier wäre und auch die Pflanze auf dem Balkon braucht vielleicht etwas Gesellschaft, um sich wohl zu fühlen, so wie ich (so ein einsames Pflänzchen, irgendwie traurig, da verspürt man gleich Mitleid und kauft lieber noch ein zweites Pflänzchen dazu).
Man könnte negativ sagen, der Mensch ist egozentrisch und betrachtet und beurteilt alles aus seinem Blickwinkel. Positiv könnte man aber auch sagen: Der Mensch besitzt Empathie, kann sich in andere Menschen – aber dann auch fälschlicherweise in Tiger und Balkonpflanzen – hineinversetzen und mitfühlen.
Was hat das mit Werbung zu tun? Auch zu Werbung sind wir geneigt, eine Haltung einzunehmen, die wir von der Begegnung mit anderen Menschen kennen. Werbung baut auch immer eine Beziehung zum/zur Betrachter*in auf, so als wäre die Werbung selbst auch ein Mensch (wie der Tiger und die Balkonpflanze). Die Beziehung zur Werbung ist ebenso wie die Beziehung zu anderen Menschen von verschiedenen Machtverhältnissen geprägt, die einen entscheidenden Einfluss auf ihre Wirkung haben.
Dabei stellen sich die Fragen: Will die Werbung sich mit mir solidarisieren, oder will sie mich belehren? Will sie mit mir kollaborieren, mich verführen, oder sachlich überzeugen? Wie steht sie zu mir? Sie kann mir sagen „Kauf mich, denn ich bin mächtig und lasse dich dann teilhaben an meiner Macht“ oder sie sagt mir „Mit mir kannst du selbst mächtig sein und ich bin nur dein Diener“. Vielleicht sagt sie auch: „Wir zwei, wir wollen doch dasselbe, wir sind doch irgendwie seelenverwandt“.
Mächtige Betrachter*innen
Betrachter als Distanzierter Beobachter
Die Vogelperspektive auf eine Szene in einer Werbung gibt Betrachter*innen den Eindruck, aus einer erhöhten Position wie Königin oder König auf ihr Refugium zu schauen. Sie fühlen sich erhaben. Das kann für die Bewerbung eines Urlaubsortes implizieren: Erobere dir den Urlaubsort und nimm dir das schöne Erlebnis. Es impliziert aber auch, nicht mitten drin zu sein, ist also weniger attraktiv für Rucksacktouristen mit dem Ziel von Völkerverständigung auf Augenhöhe.
Betrachter als Zuschauer
Werden den Betrachter*innen Produkte wie in einer Vorführung präsentiert, fühlen sie sich hofiert und im Mittepunkt der Aufmerksamkeit – das kann wie in der 1&1 Werbung ein Einblick in das Unternehmen sein, vorgeführt von Abteilungsleiter Marcell D’Avis, oder eine Art Bühneninszenierung für ein Produkt wie im Renault-Spot mit dem Sushi, der Bratwurst und dem Baguette als Dummies in einem Crashtest.
Betrachter als Voyeur
In einem Werbespot für den VW New Beetle schauen die Zuschauer*innen scheinbar durch die Linse einer Radarfalle. Die Protagonist*innen im Spot fühlen sich scheinbar unbeobachtet. Die Betrachter*innen werden hier zu Voyeuren. Auch das fühlt sich mächtig an, weil man zum eingeweihten Mitwissenden wird. Das kann aber auch unangenehm sein, wenn es peinliche oder pietätlose Szenen sind, bei denen die Betrachter*innen in die Rolle von Schaulustigen am Elend anderer gedrängt werden (siehe teils die Benetton-Werbung von Oliviero Toscani).
Auf Augenhöhe
Betrachter als Fachmann
Die Werbung kann auch so gestaltet sein, dass sie sich von Fachexpert*innen an Fachexpert*innen wendet. Oft stehen hier rational-sachliche Produktvorteile im Vordergrund, oder die Werbung wirkt wie ein kollegialer Tipp unter Experten. Sie ist jedoch meist wenig emotional, involviert aber darüber, dass die Betrachter*innen sich im guten Gefühl wähnen, rational – und nicht emotional – überzeugt zu werden.
Betrachter als Doppelgänger
Besonders häufig in heutiger Werbung wird den Betrachter*innen ein Identifikationsangebot gemacht. Das Bild im Werbemotiv zeigt Personen, mit denen sich Betrachter*innen zumindest im Wunschbild gleichen, oder es werden Szenen gezeigt, in denen sich die Betrachter*innen auch gerne selbst als Teilnehmende sehen würden. Sie tauchen ein und identifizieren sich bestenfalls auch mit dem beworbenen Angebot.
Betrachter als Teil des Bildes
Das Design einer Werbung kann aber auch so dargestellt werden, dass es schablonenhaft die Betrachter*innen auffordert, sich selbst anstelle der Protagonisten als Individuen einzusetzen, so wie der stilisierte Kopf auf Social Media Plattformen, den man durch das eigene Profilbild ersetzen soll. Das bietet sich an, wenn das Produkt für so verschiedene Zielgruppen gedacht ist, dass ein Identifikationsangebot nicht möglich ist. Ein Beispiel sind die augenlosen Figuren in der Werbung für Blau.de Mobilfunktarife.
Mächtige Werbung
Betrachter als Schüler
In den 70ger Jahren war – z.B. mit der Waschmaschinen-Fachfrau „Klementine“ die schulmeisterliche Werbung noch akzeptierter, als sie das heute ist. Ist der Schlauberger mit dem erhobenen Zeigefinger eine lustige Comicfigur wie der schlaue Spee-Fuchs oder „der kleine Hunger“ bei Müller Milch, kann es aber auch heute funktionieren, weil man eine Comicfigur ohnehin nicht ganz ernst nimmt. Die klugen Ratschläge können unterschwellig aber dennoch wirken.
Betrachter als Groupie
Für das Erlangen heißbegehrter Neuerscheinungen von Produkten campieren Konsument*innen mitunter auch über Nacht vor dem Flagstore. Das Produkt ist der Star und wird in der Werbung auch gerne so inszeniert: Glanzvoll und umgeben von gebührender Aura. Man möchte mit dem Kauf Teil der glanzvollen Gemeinschaft werden. Das elitäre Antlitz kann auf manche aber auch negativ wirken.
Betrachter als Stiller Bewunderer
Es gibt auch die stille Bewunderung für Produkte oder Marken, die derart über den Dingen stehen, dass sie es nicht einmal nötig haben, zu glänzen, oder sich irgendwie elitär in Szene zu setzen. Das passt zur Bewerbung von idealisierten bzw. ideologisierten Angeboten, bei denen man z.B. das Produkt nicht wegen des Produktes kauft, sondern um die Umwelt zu schonen oder eine glänzende Idee zu unterstützen.
Fazit
Die gezielte Aufmerksamkeit für die Beziehung bzw. das Machtverhältnis, die eine Werbung dem/der Betrachter*in als Angebot macht, wird selten strategisch geplant. Hier ist es meist dem guten Gespür der Kreativen zu verdanken, wenn das passende Beziehungsangebot gemacht wird. Es könnte jedoch von großem Vorteil sein, das Beziehungsverhältnis planvoller – sowohl in der Konsument*innen-Forschung als auch in der gezielten Wahl der Gestaltungsmittel in der Kreation – einzusetzen.