Das Lebensgefühl einer vergangenen Zeit zeigt sich auch in Gestaltungen, Stilen und Handhabungen. Kann man auch aus dem aktuellen Zeitgeist erfolgversprechende Designs ableiten?
Wenn man heute sagt „Das ist ja total 80ger“, dann hat man bestimmte Bilder vor Augen, z.B. Männer mit Vokuhila-Frisur (vorne kurz, hinten lang) und Frauen mit Schulterpolstern. Man hat bestimmte Sounds im Ohr, z.B. die Neue Deutsche Welle oder „Shout“ von „Tears for Fears“. Ob man sich für die eigenen Fotos aus den 80gern (falls man da schon fotografiert wurde) mehr schämen muss, als man sich für die Fotos der Eltern aus den 60gern fremdschämt, kann man schwer entscheiden … getoppt wird ohnehin beides von den Tapetenmustern und Koteletten der 70ger.
Interessant ist, dass man auf die Aufforderung, eine typische Frisur, eine typische Wohnungseinrichtung oder einen typischen Sound der 2010er Jahre zu nennen, nur schwer eine Antwort findet. Es scheint so, als bräuchte es ein paar Jahrzehnte Zeit, bis man eine klare Vorstellung für die typischen sinnlichen Ausprägungen eines Zeitgeistes hat. Der Umstand, dass man selbst ein Kind seiner Zeit ist und den aktuellen Zeitgeist als „gewöhnlich und normal“ empfindet, verblendet offenbar den Blick darauf. Macht vielleicht Sinn, denn sonst müssten einem schon heute die aktuelle Frisur und andere Vorlieben peinlich sein.
Es ist keine Frage, dass der Zeitgeist, das Lebensgefühl und den Umgang mit Werten und Lebensfragen auch Design, Mode, musikalische Vorlieben, Essgewohnheiten, Wohnpräferenzen etc. beeinflusst. Aber wie das genau zusammenhängt, ist ohne Abstand schwer zu bestimmen. Hilfreich wäre, wenn man aus dem aktuellen Zeitgeist schon schließen könnte, welche Produkte und Designs aktuell attraktiv sein könnten – zwecks Innovationen, die sich wie warme Semmeln verkaufen. Es gibt jedoch immerhin kluge Untersuchungen bezüglich der Vergangenheit, aus denen sich Anregungen ziehen lassen, auf was man achten könnte.
Etwa in den 1920–1950 Jahren war in den USA das „Stromliniendesign“ modern (siehe auch Collage oben). Ursprünglich war es aus technisch-ergonomischen Beweggründen entstanden, um den Luftwiderstand von Fahrzeugen zu verringern. In der gestalterischen Wirkung drückte es aber auch das Fortschrittsstreben und die Beschleunigung des Lebens aus, also ein Lebensgefühl. Dieser Stil setze sich dann auch für Architektur, Möbel und Radiodesign durch, also Produkten, bei denen der Luftwiderstand keinerlei Rolle spielt. Hier zeigt sich, wie sich die psychologische Wirkung im Design von der ursprünglich funktional-technischen Herkunft ablöst und zum Symbol eines Zeitgeistes und Lebensgefühls wird.
Ein ähnliches Beispiel ist der Freischwinger-Stuhl, der zum Wahrzeichen des Bauhaus-Designs in Deutschland wurde: „Man kann vielleicht sagen, dass auf diesem Stuhl nur ein Mensch sich wohl fühlen wird, dem die ständige leichte Anspannung modernen Lebens (…) zum unentbehrlichen Bestandteil seines Lebensgefühls geworden ist“, schrieb Alexander Schwab 1930 im „Buch vom Bauen“ zum Freischwinger.
Auch grundlegende Erfindungen lassen sich mit dem Zeitgeist verbinden. Die erste Fotokamera – Camera Obscura – war bereits seit 50 Jahren erfunden, bevor die Entwicklung zur modernen Kamera Schubkraft aufnahm. Grund war das aufstrebende Bürgertum, das es dem Adel gleich tun wollte. Ein Maler, der das Familienoberhaupt oder die gesamte Familie stilvoll in einem Gemälde in Szene setzt, war zu teuer. Die Erfindung der Fotokamera als günstige Alternative kam gerade recht.
Wie kann man den sinnlichen Ausprägungen für aktuelle Strömungen auf die Spur kommen?
Basis: Kulturforschung
Um die sinnlichen Ausprägungen im Zusammenhang zu verstehen, ist psychologische Kulturforschung als Basis hilfreich: Was bewegt heute die Menschen, welche aktuellen Ereignisse haben sie aus welchen Gründen besonders bewegt. Was ängstigt sie, gibt ihnen Hoffnung, welche Visionen sind en vouge?
Artefaktforschung
Welche Dinge sind heute wichtig, welche nicht? Was wird z.B. heutzutage gesammelt? Vorhandene Designs, die sich heute großer Beliebtheit erfreuen, können zeigen, wie der Zeitgeist, Hoffnungen, Visionen, Ängste aussehen oder sich als Sound anhören. Auch die Art der Handhabung von Dingen — leicht, kraftvoll, schnell, langsam — und heute typische Bewegungsarten, z.B. beliebte Sportarten, geben Aufschluss, sowie typische Gewohnheiten.
Arbeiten mit sinnlichem Denken
Das heute bevorzugte „Tapetenmuster“ lässt sich aufspüren, wenn man sich die sinnlichen Vorstellungen von Menschen beschreiben lässt und konkret skizziert oder modelliert. Ebenso sollte man Fotos, Skizzen oder Videos von Dingen und Bewegungsabläufe erstellen, um aus den Skizzen typische Muster zu erkennen — sozusagen Kulturproben entnehmen.
Fremder Blick
Wie würde man das Heute sehen, wenn man sich imaginativ in das Jahr 2040 versetzt? Auch wenn der experimentell fremde Blick auf die Gegenwart aus der Zukunft schwierig ist, kann er dennoch sehr erhellend sein. Alternativ hilft die Vorstellung, man sei Gegenwarts-Archäologe, Ethnologe oder ein Außerirdischer, der eine fremde Kultur betrachtet.
So erhält man nicht nur Erkenntnisse zur psychologischen Befindlichkeit der Kultur, sondern auch konkrete Einsichten darüber, wie die sinnlichen Ausprägungen gestaltet sind, also welche Form, welche Farbe etc. der heutige Zeitgeist hat.