Warum es manchmal kleine technische Details sind, die große psychologische Auswirkungen haben, und wieso jeder einige Zoom-Funktionen kennen sollte.
Viele Monate, nachdem wir – ich glaube, es war irgendwann im März – in einer Nacht- und Nebelaktion alles auf Online umgestellt haben, und inzwischen viele Online-Gruppen und ‑Interviews später, möchte ich meine bescheidenen Erfahrungen zur psychologischen Online-Forschung teilen. Vielleicht hilft es jemandem. Ein paar handfeste Tipps hab ich auch dabei.
Zugegeben, ich gebärde mich ein wenig großspurig mit dem Titel „Profi-Tipps“. Aber meine Erfahrung inzwischen ist, dass es manchmal kleine technische Finessen sind, die den Unterschied zwischen einem gelungenen Forschungs-Erlebnis und einem Ersatz für Live-Gespräche ausmachen können. Heute habe ich eine ganz andere Meinung zur psychologischen Online-Forschung als noch vor etwa einem Jahr. Wir bei INNCH fragen uns mittlerweile, ob und warum wir jemals wieder Forschung in einem Teststudio machen sollten (und unsere Kunden fragen sich das auch). Klar, man wird das differenzierter betrachten müssen, aber vieles spricht einfach für online.
Damit meine ich nicht den Firlefanz, den man mit Online-Forschung drum herum machen kann, wie kleine Umfragen, Online-Tagebücher, Bulletin-Boards etc. Das mag für „herkömmliche“ Marktforschungsinstitute interessant sein – für den tiefenpsychologischen Kulturforscher, der z.B. etwas über die weniger offensichtlichen Auswirkungen der Pandemie auf unsere Lebensbefindlichkeit erfahren möchte, ist das allenfalls eine nette Ergänzung. Relevant für mich sind ganz andere Dinge, die Intensität der Gespräche, die Chance, eine Beziehung auf Zeit aufzubauen, die kleinen nonverbalen Signale zu bemerken und aufzugreifen, die Frage, ob sich eine echte, lebendige Gruppendynamik einstellt.
Und hey, das tut es! Ich war anfangs sogar überrascht, wie echt und lebendig gerade Gruppendiskussionen werden können. Manchmal kannst du dich als Moderator sogar eine Weile komplett rausziehen und die Leut diskutieren untereinander weiter. Cool. Ob es damit zu tun hat, dass viele inzwischen das Video-Chatten gewohnt sind? Oder liegt es daran, dass sie bequem zuhause sitzen, so als würden sie mit Freunden quatschen, die zu Besuch gekommen sind? So ein Teststudio ist ja auch nicht immer sonderlich heimelig, daher haben wir Gruppen immer lieber in unserem Atelier durchgeführt. Oder auch daran dass sich Menschen aus ganz verschiedenen Ecken Deutschlands begegnen? Wer weiß… ich denke, dass aber auch ein paar ziemlich profan anmutende, technische Einstellungen großen Einfluss haben können. Wie die Selbstansicht auszublenden oder die Beobachter unsichtbar zu machen.
Ich habe seit einiger Zeit eine kleine Checkliste, die ich wie ein Pilot vor dem Start jedes psychologischen Gesprächs abarbeite (das folgende gilt jetzt nur für Zoom und am Beispiel eines Gruppengesprächs, und natürlich habt ihr alles datenschutzkonform eingestellt und Einwilligungen eingeholt):
Vor den Diskussionen unbedingt die Kunden fragen, mit welchen Namen sie sich als Beobachter einloggen! Manche werden da nämlich kreativ, und dann kann man nicht unterscheiden, wer im Warteraum Teilnehmer oder wer Kunde ist. Und: Die Kunden vorwarnen, dass sie sich im Warteraum ein paar Minuten gedulden müssen (meist etwa 5 Minuten) — der Warteraum lässt sich übrigens anpassen und ‘branden’, aber das nur am Rande.
Wenn alle Teilnehmer da sind, zunächst nur die echten Teilnehmer einlassen, und Begrüßungsgedöns, Witzchen, Smalltalk und so
Die Namen der Teilnehmer ändern, d.h. ihre Nachnamen löschen. Trotz ausdrücklichem Hinweis in der Einladung ist in jeder Gruppe mindestens einer dabei, der sich mit vollem Namen eingeloggt hat – egal, Kunde ist ja noch im Warteraum
Die Teilnehmer werden jetzt instruiert:
Zuerst sollen alle in die Gallerie-Ansicht wechseln. Man will sich ja gegenseitig sehen und aufeinander reagieren können. Am PC „rechts oben“, am Smartphone oder Tablet „links oben“ (besser, man instruiert sehr genau, nicht jeder denkt immer mit)
Dann sollen alle auf ihr Videobild klicken (auf die drei Punkte oben rechts) und dort „Selbstansicht ausblenden“ anklicken. Schwupps, schon sehen sie sich nicht mehr selbst. Psychologisch hat das Konsequenzen! Sich immer selbst beim Reden zu sehen, ist nicht nur unnatürlich, sondern provoziert manchmal auch eine zu ‚reflektierte‘ Haltung, v.a. im Einzelinterview. Für Smartphone- und Tabletnutzer gibt es übrigens eine Extra-Anleitung von mir (muss man parat haben! – findet sich übrigens im „Mehr“ rechts oben und dann in den „Meeting-Einstellungen“)
Als letztes sollen alle die einzige schwarze Kachel ohne Video anklicken (das ist mein Handy, mit dem ich mich als zusätzlicher „Teilnehmer“ schon ganz zu Beginn eingeloggt habe) und dort „Teilnehmer ohne Video ausblenden“ anklicken. Zack, für alle weg. Wenn alle schön genickt haben, dass sie die schwarze Kachel nicht mehr sehen, kann ich mein Handy ausloggen. Wenn ich dann die Kunden ohne Video einlasse, sieht sie keiner (die Funktion “Teilnehmer ohne Video ausblenden” wird übrigens nur angezeigt, wenn bereits ein Teilnehmer ohne Video drin ist, daher der “Profi-Tipp” mit dem eingeloggten Handy). Teilnehmer am Handy/Tablet finden die Funktion auch bei „Mehr“ und „Meeting-Einstellungen“.
Das war‘s auch schon. Natürlich kläre ich die Teilnehmer auf, dass wir beobachtet werden, aber es stört keinen mehr, weil die Beobachter weder als Kachel noch psychologisch “da” sind. So wie der Morphologische Psychologe sagt: Seelisches ist nicht irgendwo “innen”, sondern zeigt sich in den Dingen selbst und in unserem Umgang mit ihnen. Was nicht mehr sichtbar ist, ist irgendwann auch weg (für den Kölner: Fott es fott). Egal, wir sind jetzt jedenfalls „unter uns“, und alles ist schön aufgeräumt. Die Aufzeichnung starten (nicht vergessen! Steht deshalb auf der Checkliste) und los geht es. Auf die (lokale) Aufzeichnung haben alle diese Einstellungen übrigens keine Auswirkung, es ist alles drauf.
Sind 4 oder 5 Teilnehmer in der Gruppe (unsere Maximalgröße für Gruppen), sieht jetzt also jeder nur den Moderator und die anderen Mitdiskutanten. Ich sehe nur die Teilnehmer (ich blende meine Selbstansicht auch regelmäßig aus, das macht so ein Gespräch deutlich entspannter, muss den Bauch nicht einziehen, darauf achten, dass ich klug gucke etc.).
Gaaanz subjektiv hier noch ein paar weitere Tipps:
Nutze kein Headset, das mag zwar cool aussehen, macht aber nur warme Ohren, klingt nicht wirklich besser als ein gutes Mikro auf dem Tisch und engt einen irgendwie ein
Nutze einen möglichst großen Monitor. In Einzelinterviews sind die Köpfe dann sogar größer als in echt. Da kriegt man einiges mit. In Gruppen: Super Übersicht
Nutze eine Weitwinkel-Webcam. Dann kann man auch mal aufstehen und was zeigen, zu zweit moderieren, oder mit Gesten kommunizieren (dass man in Videochats nicht ständig „Ja“ oder „Hmm“ und „Interessant“ sagen sollte, ist ja bekannt, doch mit lautlosen aber großen Gesten kann man kleine Gruppen überraschend gut dirigieren)
Investiere in ein LAN-Kabel – gibt es auch mit 20 m
Wenn du deinen Bildschirm teilst (z.B. um Testmaterial zu zeigen, oder weil du ein Whiteboard oder ein Zeichenprogramm für’s Phantomskribbling nutzen möchtest), tue das immer nur kurz oder schalte zwischendurch immer wieder in die Gallerieansicht zurück, dann verlieren sich die Teilnehmer nicht aus den Augen
Für Zwischendurch-Gespräche mit den Kunden eignet sich am besten eine klassische Telefonkonferenz (und denke daran, vorher dem Kunden die Einwahlnummern zu schicken) – geht natürlich nur, wenn man zu zweit moderiert, was bei uns oft vorkommt. Alternativ: Die Gruppe ein paar Minuten alleine lassen
Nutze nicht den Chat. V.a. nicht für Zwischenbemerkungen des Kunden. Erwähne am besten gar nicht, dass es die Möglichkeit gäbe
So, alles eher unspektakulär und eher technisch. Und nur für den, der das ein oder andere noch nicht wusste. Dafür aber psychologisch effektiv.
PS im Artikel habe ich ausnahmsweise mal nicht gegendert, hätte zu unruhig ausgesehen bei den vielen Teilnehmer*innen und Kund*innen. Ihr seid aber alle gemeint.