Tiefenpsychologie hat wenig mit verborgenen Inhalten unter der Oberfläche oder Eisbergen zu tun. Um einmal mit ein paar Klischees aufzuräumen.
Wenn man sagt, man sei Tiefenpsychologe, wird man erstaunlich selten gefragt, was denn das eigentlich sei. Irgendwie hat jeder sofort ein Bild. Da geht es um das “Unterbewusstsein”, um irgendwelche dunklen und verborgenen Regionen “unterhalb” des vernünftigen Denkens, die deutenderweise – wahlweise auf einer Couch oder mit ominösen Apparaten — ans Tageslicht befördert werden. Es provoziert Bilder von Kellern, der Tiefsee oder Eisbergen, bei denen der größte Teil unter dem Meeresspiegel liegt. Fun Fact: Ich halte seit ein paar Jahren Vorlesungen zu qualitativen Methoden an einer Business-Hochschule, und das Skript, das ich damals als Vorlage erhielt, zierte einen solchen (und auch noch schlecht freigestellten) Eisberg. 😉
Es ließen sich sicher ganze Abhandlungen darüber schreiben, was Tiefenpsychologie nun ist. Erschwerend kommt hinzu, dass es unzählige tiefenpsychologische Schulen und Konzepte vom Unbewussten gibt. Aber um mit den Klischees einmal aufzuräumen, reicht es, sich die zentrale Grundannahme der Tiefenpsychologie klar zu machen.
Vorab zunächst einmal: Tiefenpsychologie hat nicht zwangsläufig etwas mit Psychotherapie zu tun. Das ist eine von vielen Anwendungsmöglichkeiten. Wir bei INNCH nutzen z.B. tiefenpsychologische Kultur- und Marktforschung als Grundlage für Entwicklungs- und Kreationsprozesse. Tiefenpsychologie ist dabei erst einmal nichts weiter als eine bestimmte forschende Haltung. Dabei ist das Wort “Tiefe” sehr unglücklich und irreführend, denn Tiefenpsychologie hat nichts mit Tiefe oder einem verborgenen seelischen Ort zu tun. Eher mit Kontext und einem Blick für umfassende alltags- und lebensweltliche Zusammenhänge (“Kontextpsychologie” oder „Breitenpsychologie“ wäre eigentlich passender, klingt aber komisch).
Eigentlich ist der Tiefenpsychologe ein langweiliger und schrecklich ordnungsliebender Typ. Ein ziemlicher Spießer, genaugenommen. Er läuft (sofern er dafür bezahlt wird) forschend durch die Welt und wittert überall Ordnung, Sinn, Zweckmäßigkeit, Absicht. Nichts ist für ihn Zufall oder beliebig, alles folgt einer Regelmäßigkeit und einem sinnvollen Plan.
Blöderweise nur gibt es auf dieser Welt Vieles, was auf den ersten Blick gar nicht so sinnvoll und zweckgerichtet ist, da verlieben sich Menschen ständig in den “Falschen‘” da kann man sich seine plötzliche Sympathie oder Antipathie nicht erklären, wir kaufen mal wieder ein Produkt, dass wir eigentlich gar nicht brauchen. Das wurmt den ordnungs- und prinzipienliebenden Tiefenpsychologen so sehr, dass er kurzerhand ein Konstrukt erfindet, damit alles wieder sinnvoll ist und seine Ordnung hat: Das Unbewusste. Denn nichts ist ihm mehr zuwider, als von seiner Überzeugung abzulassen, dass alles im Bereich des Verhaltens und Erlebens Sinn macht, einen Zweck erfüllt, einem absichtsvollen Muster folgt. Dass einfach nichts und wirklich rein gar nichts beliebig oder zufällig ist. So ist er eben, der Tiefenpsychologe (und natürlich auch die Tiefenpsychologin, denn dieser Spleen macht vor dem Geschlecht nicht Halt).
Das Unbewusste ist damit nichts weiter als der an- und hinzugenommene „fehlende“ Sinnzusammenhang. Ein Zusammenhang, der uns manchmal nur einfach nicht klar, nicht bewusst ist, weil wir nicht alle Lebenserfahrungen und unseren gesamten Lebenskontext ständig auf dem Schirm haben. Dieser Zusammenhang ist auch nicht irgendwo “unten”, es sind die Muster, die Patterns zwischen dem, was ansonsten alles ganz offensichtlich ist. Manchmal dringen uns diese Zusammenhänge aus allen Poren. Sie stecken in den Äußerungen und Einfällen, sie leben in den Geschichten, die uns Befragte in Tiefeninterviews erzählen, sie offenbaren sich darin, wie diese Geschichten erinnert und mit welchen Worten sie erzählt werden, sie zeigen sich in den Vorstellungsbildern der Menschen oder verraten sich in der zwischenmenschlichen Dynamik von Gesprächen.
Die „Übertragung“ ist auch nichts anderes als eine solche zwischenmenschliche Dynamik, die man schon aus dem Alltag kennt. Da steht der Student „morgens“ um 12 Uhr in der Bäckerei und kauft Brötchen zum Frühstück und die Verkäuferin guckt ihn vermeintlich komisch an. Schon hat unser Student ein unangenehmes Gefühl. Was ihm nicht bewusst ist: Er überträgt einfach nur seine (Schuld-) Gefühle, die er von zuhause kennt, wenn er mal wieder so lange geschlafen hat und seine Mutter ihm Vorhaltungen gemacht hat, auf die Verkäuferin. Der Verkäuferin ist das alles ziemlich egal, sie weiß vermutlich gar nichts von dieser Übertragung. Durch die Annahme eines solchen — weder dem Studenten noch der Verkäuferin bewussten — Zusammenhangs aus einem größeren Kontext (der Lebensgeschichte des Studenten), kann der Tiefenpsychologe wieder ruhig schlafen. Er hat die Ordnung der Welt gerettet und kann an seiner Weltsicht festhalten: Alles macht Sinn.
Solche unbewussten Zusammenhänge können auch spannungsvoll oder gar konflikthaft sein, sie sind manchmal einfach und manchmal komplex und vielschichtig, sie sind uns mal mehr oder weniger verfügbar, sie folgen eigenen psycho-logischen Regeln, die sich von denen der “logischen Vernunft” unterscheiden, sie sind assoziativ, bildhaft, “körperlich” und oft “schlampig” (➔ siehe auch den Beitrag zum schlampigen Denken). Sinn machen sie aber immer.
Man muss sich natürlich klar machen: Ein Konzept wie „Das Unbewusste“ ist ein wissenschaftliches Konstrukt, und damit erst einmal eine Annahme des Psychologen. Eigentlich ist sogar unerheblich, ob es das Unbewusste wirklich gibt oder ob es nur ein Konstrukt ist. Wichtig ist – und nur dann darf sich die tiefenpsychologische Forschung wissenschaftlich nennen: Es muss nachvollziehbar, überprüfbar und transparent gemacht werden, wie diese Sinnzusammenhänge rekonstruiert werden. Andere Forscher – sofern sie mit vergleichbaren Methoden arbeiten und von der gleichen Grundannahme (“Alles macht Sinn”) ausgehen – müssen zum gleichen Ergebnis kommen. Im Unternehmenskontext muss es sich als nützlich erweisen, Erleben und Verhalten nicht nur erklären, sondern Prognosen und Potentialeinschätzungen möglich machen, oder als praktikable Basis für Kreationsprozesse taugen.
Ach so, und es gibt noch so ein Vorurteil, das einem als Tiefenpsychologe immer wieder begegnet, vorzugsweise auf Partys: „Oh, du bist Psychologe, da muss ich aber aufpassen, was ich sage.“ Obacht: Das ist kein Klischee, das stimmt!
(ms)