Was ist dran am Mythos: Keine Kritik im Kreativprozess?
Eine weit verbreitete Regel im Kreativprozess heißt: Man soll bei der Ideenentwicklung auf keinen Fall eine Idee kritisieren. Das behindere das kreative Denken, schüchtere die Ideenentwickler*innen ein, sodass sie sich nicht mehr trauen, weitere Ideen zu nennen.
Stimmt das?
Natürlich ist da auch etwas Wahres dran. Wer immer nur für das, was er tut oder sagt, kritisiert wird, wird demotiviert, das Selbstbewusstsein schwindet und die Lust vergeht. Das ist sicher eine allgemeine Erkenntnis, die auf viele Situationen zutrifft, nicht nur auf kreative Entwicklungsprozesse.
Es ist aber auch nicht ganz richtig.
Kritik ist unvermeidbar
In der Ausbildung in einem kreativen Beruf hagelt es mitunter sogar ziemlich harsche Kritik. An der Kunstakademie kann man z.B. erleben (real erlebtes Beispiel!), dass ein Professor die Mappe eines Studenten mit seinen neusten Werken in eine Ecke wirft mit dem Kommentar „Was soll ich mit dem Sch…“. Die meisten Ausbilder*innen sind nicht so cholerisch, haben aber auch selten die Feedbackregeln verinnerlicht oder gewaltfreie Kommunikation gelernt.
Auch später im kreativen Berufsleben hat man grundsätzlich die Situation, dass die Ideen oder Kreationen von Chef*innen und Kund*innen etc. kritisiert werden. Auch wenn Kritik immer unangenehm ist, muss man schlicht damit umgehen lernen, falls man nicht nur für sich allein im stillen Kämmerlein kreativ sein möchte.
Kritik ist sogar enorm wichtig
Oft sind die Kreativen selbst die schärfsten Kritiker ihrer eigenen Schöpfungen. Andernfalls würde man sich zu früh mit einer schlechten Idee oder einem schlechten Design zufrieden geben, sich nicht selbst genug herausfordern, es noch besser zu machen. Entwerfen besteht zum größten Teil aus Verwerfen. Unzufrieden mit dem Ergebnis sein, scheitern und neu ansetzen fördert die Weiterentwicklung der Qualität.
Kritik ist nicht gleich Kritik
Man kann zwei Arten der Kritik unterscheiden: konstruktiv und destruktiv. Dabei kommt es weniger darauf an, ob die Kritik nett formuliert ist oder harsch, sondern darauf, ob sie Hand und Fuß hat, man damit etwas anfangen kann.
Konstruktiv: Oft benennen die Kritiker Probleme, die den Ideenentwicklern selbst schon – zumindest als leise Ahnung – aufgefallen sind, sie diese aber verdrängt haben, nach dem Motto: wenn es keiner merkt, ist das Problem auch nicht da. Eine solche Art von Kritik erhält man i.d.R. von Menschen, die selbst im Thema, zu dem Ideen entwickelt werden, drin sind, und auch selbst ein großes Interesse daran haben, dass die Schöpfung eine hohe Qualität erhält. Diese Art von Kritik inspiriert und fordert auf, sich noch mehr anzustrengen, weiter zu denken. Es ist also positive Kritik, weil sie die Idee weiter bringt, besser macht.
Destruktiv: Es gibt auch Menschen, die eigentlich lieber hätten, wenn alles so bleibt wie es ist und keine neuen Ideen in die Welt kommen, die es überhaupt kritisch sehen, dass man kreativ an Dinge herangeht, die vielleicht sogar Angst vor Veränderungen haben. Diese versuchen – oft unbewusst – die Ideenentwicklung zu behindern. Hier findet man dann die typischen Totschlagargumente á la: das hat noch nie geklappt, so haben wir das noch nie gemacht, das will doch keiner haben etc. Es ist negative Kritik, weil sie den kreativen Prozess bremst oder gar verhindert.
Wie geht man in Innovationsprozessen mit kritischen Stimmen um?
Die erste Lösung ist nicht immer möglich, aber die beste: Man sorgt dafür, dass kein Teilnehmer im Ideenteam ein solch grundsätzlicher Kritiker ist, indem man nur Leute teilnehmen lässt, die auch Lust dazu haben, etwas Neues zu entwickeln, und denen das Produkt oder die Aufgabe, für die etwas entwickelt werden soll, am Herzen liegt. Das geht deshalb nicht immer, weil es oft bestimmte Personen im Unternehmen gibt, z.B. Vorgesetzte, die sich nicht nehmen lassen wollen, dabei zu sein, die aber eigentlich das Geschehen kontrollieren möchten.
Als Moderation oder Teamleiter*in kann man folgendermaßen damit umgehen:
Am Anfang eines Ideenprozesses thematisiert man offen, dass es zwei Arten von Kritik gibt, und dass die eine gut und die andere eher schädlich ist. Dann achten alle darauf und lassen sich ggf. von destruktiver Kritik nicht beeindrucken.
Kritiker*innen sollte man ernst nehmen, denn hinter einem diffusen Nörgeln könnte sich auch konstruktive Kritik verbergen. Am besten bittet man die kritischen Stimmen, näher zu erläutern, wo sie ein Problem sehen, um herauszufinden, ob die Kritik vielleicht berechtigt ist.
Man plant für alle Fälle ein, das Phänomen methodisch zu lösen, indem man an Teilnehmer*innen quasi offiziell die Aufgabe des „Advocatus Diaboli“, also des Nörglers, vergibt. Das veranlasst kritische Teilnehmer*innen, ihre Kritik konstruktiver zu gestalten, denn es ist ja jetzt als konstruktive Aufgabe deklariert.
Es können auch Zeitfenster eingebaut werden, in denen Kritik untersagt ist, alle Teilnehmer*innen eine rote Karte haben, die sie hochhalten können, wenn in diesem Zeitfenster Kritik geübt wird oder Ideen „zer“diskutiert werden. Andere Zeitfenster werden dann als Kritikphasen ausgewiesen, in denen jeder nach Belieben Kritik üben kann, die Kritik notiert wird und danach noch einmal einer gemeinsamen Prüfung unterzogen wird. Die dritte Phase ist dann: Gemeinsames Lösen von Problemen, die durch die Kritik aufgedeckt wurde. Man arbeitet es also als gemeinsame Aufgabe in den Prozess ein.