Die Bedeutung von Kunst und Kultur geht weit über Freizeit und Unterhaltung hinaus. Sie geben uns ein Gefühl, mehr zu sein als ein im Hier und Jetzt funktionierendes Wesen. Sie machen uns zu einem Teil eines größeren Zusammenhangs, in dem wir frei und selbstbestimmt über unser Leben bestimmen.
Die Frage nach der Bedeutung von Kunst und Kultur für den Menschen und die Gesellschaft ist nicht erst mit Corona aufgekommen. Neu ist, dass mit der Pandemie und der (nachvollziehbaren) Notwendigkeit, das gesellschaftliche Leben einzuschränken, diese Frage neu und sehr pragmatisch verhandelt wird: Welche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens sind wichtiger als andere? Was muss weiterlaufen, was kann heruntergefahren werden? Sind Kunst und Kultur „systemrelevant“ oder nicht?
Gemeint ist die gesellschaftliche Relevanz von Künstlern und Musikern, von Galerien, Theatern, Konzertbühnen und Clubs und dem ganzen Rattenschwanz, der daran hängt, wie Kuratoren, Ton- und Veranstaltungstechnikern und vielen vielen mehr.
Der Star-Trompeter Till Brönner richtete einen leidenschaftlichen Appell an die Politik und die Öffentlichkeit. Politiker machen „Kulturmilliarden“ locker. Argumentiert wird dabei immer mit der wirtschaftlichen Relevanz und dem Erhalt von Arbeitsplätzen. Das ist sicher nicht falsch. Dazu genügt schon ein schneller Blick auf die Zahlen.
Im Jahr 2017 betrug die Bruttowertschöpfung der „Kultur- und Kreativwirtschaft“ 102,4 Mrd. Euro und zählte 903.025 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Zum Vergleich: Die Bruttowertschöpfung in der deutschen Automobilindustrie betrug nur etwas mehr, nämlich 105,99 Mrd. Euro. Die Anzahl der Beschäftigen lag „nur“ bei 833.000 (Quelle: Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft 2018)
Als „systemrelevant“ gelten nicht nur Wirtschaftszweige, weil sie die Volkswirtschaft am Laufen halten. Systemrelevant ist auch alles, was für das Funktionieren einer Gesellschaft notwendig ist. Also etwa der Gesundheitssektor, die Lebensmittelversorgung, das Transport- und Verkehrswesen, Verwaltung, Polizei, Journalismus etc. Eine Pandemie ist ein Ausnahmezustand, und da ist es richtig und wichtig, den Blick zuerst auf die notwendigsten Lebensbereiche zu richten.
Ein solcher Ausnahmezustand geht dadurch aber auch mit einer Überbetonung des „Funktionalen“ im Leben einher. Wie ist das nun mit Kunst und Kultur? Haben sie eine “Funktion” für die Gesellschaft? Oder liegt ihr Sinn nicht gerade jenseits des Funktionalen, und wenn ja, was soll das für ein Sinn sein?
Auf diese Frage kann die Psychologie eine Antwort geben. Denn es ist nicht damit getan, auf die Wichtigkeit von Unterhaltung, kollektiven Erlebnissen, Begegnungen oder Zerstreuung für den Seelenhaushalt zu verweisen. Alles richtig, aber zu kurz gegriffen. Kunst und Kultur haben nicht nur den Zweck, uns mit Erholung und guter Laune auszustatten, damit wir im Arbeitsleben besser flutschen. Die Bedeutung von Kunst und Kultur liegt auf einer viel tieferen Ebene.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb in einem Artikel vom 29.12.2020 („Kunst in Corona-Zeiten: Unbegreiflich – und unverzichtbar“) über die Kunst: „Sie ist es, die den Menschen erst zum Menschen macht, und die deshalb genauso unverzichtbar ist wie Medizin, Trinken oder Sex.“ Wow, Kunst ist also für das Funktionieren menschlicher Gesellschaften essentiell. Sie ist, was eine menschliche Gesellschaft von einem (meist auch gut funktionierenden) Bienenstaat unterscheidet – und zwar auch für diejenigen, die noch nie ein Museum oder eine Konzerthalle von innen gesehen haben. Wie kann das sein?
Zum Einen: Kunst und Kultur weisen ausdrücklich über das Funktionale und über das Hier und Jetzt hinaus
Das ist ihr Sinn. Sie machen erfahrbar, dass menschliches Leben mehr ist als Funktionieren im Gegenwärtigen, mehr als essen, trinken, schlafen, arbeiten, erholen, vögeln, uns informieren oder wieder gesund werden, wenn wir krank sind.
Sie tun dies, indem sie uns in bedeutungsvolle Zusammenhänge einbetten, uns ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einer Kultur oder zu einer mehrhundertjährigen Geschichte geben (und auch, wenn ich Beethoven nicht mag, ist er Teil meiner Kulturgeschichte und in jedem Popsong im Radio präsent). Kunst und Kultur machen uns zu Wesen mit Kontext, Geschichte und zum Teil eines großen Ganzen. Dies war schon seit dem Anbeginn menschlicher Gesellschaften so, wie früheste künstlerische Zeugnisse zeigen, wie etwa die fast 30.000 Jahre alte Venus von Willendorf.
Zum Anderen: Kunst ist kontingent
Das einzelne Kunstwerk, Musikstück oder Konzert ist gerade eben in dieser Form nicht-notwendig. Es könnte auch anders sein, denn in der Welt der Kunst gibt es nichts mehr oder weniger Gültiges, sondern nur das Mögliche.
Folgt man dem Philosophen Georg W. Bertram („Kunst als menschliche Praxis: Eine Ästhetik“, 2014), dann fordert Kunst dadurch zur „Freiheit der Selbstbestimmung“ heraus. Kunst zeigt, was anders möglich, denkbar, lebbar wäre, stellt die Sicht auf die Welt in Frage, kann aber auch einfach nur genossen werden – auch das steht jedem frei. Freiheit und Selbstbestimmung kann übrigens auch bedeuten, etwas schlecht oder wertlos zu finden. Diese Freiheit habe ich im Umgang mit nicht-kontingenten (damit funktional-systemrelevanten) Lebensbereichen wie der Gesundheitsversorgung nicht.
Kurzum: Kunst und Kultur machen uns zu freien Menschen, die nicht nur in größere Zusammenhänge eingebunden sind, die nicht nur wissen, woher sie kommen und wessen Teil sie sind, sondern die auch frei entscheiden können, wohin sie morgen gehen wollen. Sie sind das Gegenteil von und Gegengewicht zu Funktion und Funktionieren. Darin liegt ihre “Relevanz”. Sie machen das “System” Gesellschaft erst komplett und zu einer menschlichen Gesellschaft.
Außerdem: Nicht zuletzt sind Kunst und Kultur auch Motor der Kulturentwicklung
Ob schwer zugängliche Werke zeitgenössischer Künstler auf der Documenta oder Popsongs von Herbert Grönemeyer – Künstler „erforschen“ die kulturelle Gegenwart, machen sie begreifbar, zeigen Alternativen auf und treiben damit die Kulturentwicklung voran. Nach dem Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend schafft Kunst genauso gültige Erkenntnis wie etwa die Wissenschaften, die heute als alleinig dafür zuständig angesehen werden.
Zurück zu Corona: Auf Theaterbesuche kann man sicher auch mal ein Jahr verzichten, oder auch zwei oder drei. Kunst und Kultur als gesellschaftlicher Zusammenhang, der uns zu Kulturwesen macht, der uns die Freiheit der Selbstbestimmung gibt, stirbt nicht einfach so weg. Kunst und Kultur sind auch nicht abhängig von der Existenz von Galerien oder Theatern. Zur Not suchen sie sich andere Ausdrucksformen, und sei es in stylishen oder schrägen Maskendesigns, Cartoons, Internet-Memes oder Witzen über Klopapier.
Allerdings werden sie es schwerer haben, wenn man ihnen den kreativen Freiraum und die wirtschaftliche Grundlage nimmt. Damit wären wir am Ende doch wieder bei der Wirtschaft.