Rezension zum Buch: „Von der Idee über die Erfindung zum Patent“ (2022) von Dietmar Zobel
Die handwerkliche Seite der Kreativität
Welches Bild entsteht vor unserem geistigen Auge, wenn wir an Kreative und Erfinder denken? Zufall? Geistesblitz? Genialität? Oder zumindest Intuition? Ja, davon trifft vieles sicher zu, manchmal jedenfalls. Die psychologischen Bedingungen und Mechanismen für Kreativität – wie Fantasie, Vorstellungskraft, Beobachtungsgabe oder das sinnlich-analogische Denken (s. auch den Beitrag zum schlampigen Denken) – wurden gut untersucht. Es gibt großartige Literatur dazu, von Csikszentmihalyi bis de Bono, um nur die schillerndsten Autoren zu nennen. Nicht zuletzt haben auch wir in einer eigenen psychologischen Studie die Arbeitsweise von Berufskreativen unter die Lupe genommen.
Das Buch, das ich hier vorstellen möchte, beschäftigt sich mit einem nicht minder wichtigen Aspekt des Kreativen, der handwerklichen Seite und der Systematik des Erfindens. Geschrieben von einem Mann, der sich damit auskennt. Dietmar Zobel ist Praktiker, er hat viele Patente im Bereich Chemie angemeldet, etwa 30 davon werden heute industriell genutzt. Der Industriechemiker Zobel gilt zudem als einer der profiliertesten Kenner der Erfindungsmethode TRIZ und generell des systematischen Erfindens (doch keine Angst, es geht im Folgenden um sehr grundlegende und sehr nützliche Prinzipien, von denen alle profitieren, die sich mit Ideen- oder Innovationsentwicklung beschäftigen oder anderweitig kreativ arbeiten, egal ob im Bereich Technik oder Marketing).
Der Verlag hat mir das Rezensionsexemplar bereits vor einigen Wochen zukommen lassen. Ich schreibe diese Rezension daher aus einigem zeitlichen Abstand und aus meiner sehr subjektiven Warte aus. Hängen geblieben sind mir vor allem zwei zentrale Begriffe bzw. Sätze: Zum Einen der „Trägheitsvektor“ und zum Anderen die (hier sinngemäß wiedergegebene) Aussage „Eine gute Problemanalyse führt fast automatisch auf den Weg zur richtigen Lösung“. Aber der Reihe nach:
Der Trägheitsvektor
Der Trägheitsvektor ist der Bereich im Suchfeld möglicher Lösungen, der nahe liegt, der bequem ist. Das sind die konventionellen Lösungen. Lösungen, die zuerst einfallen und über die nur schwer hinauszukommen ist. Ein Attraktor, der alle Ideen unweigerlich anzieht, je planloser und unsystematischer das Vorgehen ist. Mal eben ein „Brainstorming“ zu machen, oder einen „Sprint“, macht dabei noch keine echte Systematik. Hochwertige Lösungen liegen aber in anderen Quadranten des Suchfelds, und auf die kommt man nur auf systematisch-erfinderischem Weg.
Viele der heute gängigen Kreativitäts-„Methoden“, vor allem Trial and Error oder Brainstorming führen nicht oder nur schwer aus dem Trägheitsvektor hinaus, andere nur teilweise oder nicht konsequent genug. Zobel schlägt daher einen anderen Weg vor. Der Königsweg ist für ihn eine an die Grundgedanken von TRIZ angelehnte Systematik. TRIZ ist eine Erfindungsmethode, die auf Genrich S. Altschuller zurückgeht, und seither weiterentwickelt und modifiziert wurde. Altschuller war Sekretär im Patentamt in der damaligen Sowjetunion. Ihm war aufgefallen, dass sich in der Patentliteratur immer wieder die gleichen Prinzipien finden, und aus diesen Prinzipien entwickelte er seine „Methode zur Lösung erfinderischer Aufgaben“ (s.a. der Blogbeitrag zu TRIZ).
Problem- und Systemanalyse
Ein zentraler Grundgedanke von TRIZ ist die Problem- und Systemanalyse, die Entdeckung, dass allen hochwertigen Erfindungen nicht nur ein genaues Verständnis des Problems vorausgeht, sondern die Übersetzung einer „vergifteten Aufgabenstellung“ (nach H. J. Rindfleisch) in die „eigentliche“ Aufgabe. Es gilt nicht zu fragen, wie sich eine Maschine verbessern lässt, um z.B. ein Gut besser von A nach B zu transportieren, sondern danach, wie das ideale Endresultat aussehen müsste (auch wenn dies in der Praxis nicht immer erreichbar ist). Dieses eigentliche Ziel könnte sein, dass der ganze Prozess effizienter, schneller oder weniger störanfällig ablaufen soll. Ideal wäre demnach, dass die Maschine gar nicht mehr als Maschine da ist, und das Gut etwa gleich am Ort A weiterverarbeitet wird, oder von A nach B herunterfällt. Der Einsatz der Gravitation bei dieser zweiten Lösung entspricht übrigens bereits einem der Erfindungsprinzipien, dem „Von Selbst“ Prinzip.
Aus diesem zentralen Gedanken lassen sich – und zwar übergreifend für viele Anwendungsbereiche in der Innovationsentwicklung – zwei Takeaways ableiten: Sich immer genügend Zeit (mind. 50%) für die Systemanalyse nehmen, weil das ist bereits die halbe Miete, und: Eine (womöglich „vergiftete“) Aufgabenstellung – egal ob Innovationsziel oder Forschungsbriefing – zunächst in das „eigentliche Ziel“ übersetzen. Dies gelingt über die Abstraktion der ursprünglichen Aufgabe: Worum geht es hier im Grunde?
Erfindungsprinzipien
Das Buch geht natürlich über diese beiden Aspekte Trägheitsvektor und Systemanalyse deutlich hinaus. Ein Herzstück sind die Erfindungsprinzipien selbst, die der Autor verständlich, anhand praktischer Innovations-Checklisten und mit vielen Beispielen beschreibt, meistens aus dem technischen Bereich. Eine Kostprobe: Das Erfindungs-Prinzip „Impuslarbeitende, intermittierende Arbeitsweise“ lässt sich am Beispiel Bügeleisen verdeutlichen: An die Verbesserung eines Bügeleisens wird ein paradoxer Auftrag gestellt – es soll leicht sein (Bedienungskomfort) und schwer sein (um genügend Kraft zum Glätten aufzubringen). Die Lösung ist ein leichtes Bügeleisen, das die Wäsche „glatt klopft“.
Paradoxien und Widersprüche sind im übrigen auch ein sogar wesentliches Element der TRIZ-Systematik – z.B. kann das ideale Endresultat auf einem solchen Widerspruch basieren. Das kennen wir aus unserem Metier nur zur Genüge: Ein Prozess soll verbessert, also verändert werden, er darf aber nicht verändert werden (was spätestens deutlich wird, wenn es um die konkrete Umsetzung der Innovations-Ideen geht).
Übersetzung auf andere Anwendungsbereiche jenseits der Technik
Zobel ist Chemiker, viele Beispiele sind aus der Chemie, die meisten aus dem technischen Bereich – auch wenn sich ein Kapitel mit Humor, Satire und Kunst befasst. Die auf TRIZ zurückgehenden Grundgedanken sind aber so grundlegend, dass sie sich auch auf andere Bereiche übertragen oder übersetzen lassen. „Ganz ohne Physik geht es nicht“ heißt eine Kapitelüberschrift – wird die TRIZ-Systematik z.B. auf Innovationsentwicklung für den Consumer-Bereich übersetzt, könnte man ersetzen: „Ganz ohne Psychologie geht es nicht“.
Mit InsightArt® arbeiten wir selbst mit einer an TRIZ angelehnten Methode, um Produkte, Dienstleistungen oder Kommunikations-Strategien zu entwickeln. Auch für uns ist es essentiell, eine Aufgabenstellung zunächst in die „eigentliche“ zu übersetzen, so zu abstrahieren, dass neue und hochwertige Lösungen entstehen können. Erst dann lassen sich sinnvoll psychologische Erfindungs-Prinzipien einsetzen, um aus dem Trägheitsvektor herauszukommen (was übrigens meist wirklich harte Arbeit bedeutet). Umgekehrt zeigt dies, wie universell die Gedanken, Prinzipien und Systematiken sind, die im Buch beschrieben werden, auch wenn sie zunächst etwas nüchtern-technisch und nicht so simpel und „zauberhaft“ daher kommen wie andere, gerade im Marketing gehypte „Glaubenssätze“.
Mein Fazit: Gut zu lesen, kompetent, praxisorientiert, und für jeden höchst relevant, der im Bereich Kreativität und Innovation unterwegs ist.
Zobel, Dietmar: Von der Idee über die Erfindung zum Patent, UTB GmbH, 2022
(ms)