Die ideale Maschine ist als Maschine gar nicht mehr da

Lese­zeit: 4 Minu­ten

Rezen­sion zum Buch: „Von der Idee über die Erfin­dung zum Patent“ (2022) von Diet­mar Zobel

Die hand­werk­li­che Seite der Kreativität

Wel­ches Bild ent­steht vor unse­rem geis­ti­gen Auge, wenn wir an Krea­tive und Erfin­der den­ken? Zufall? Geis­tes­blitz? Genia­li­tät? Oder zumin­dest Intui­tion? Ja, davon trifft vie­les sicher zu, manch­mal jeden­falls. Die psy­cho­lo­gi­schen Bedin­gun­gen und Mecha­nis­men für Krea­ti­vi­tät – wie Fan­ta­sie, Vor­stel­lungs­kraft, Beob­ach­tungs­gabe oder das sinn­lich-ana­lo­gi­sche Den­ken (s. auch den Bei­trag zum schlam­pi­gen Den­ken) – wur­den gut unter­sucht. Es gibt groß­ar­tige Lite­ra­tur dazu, von Csikszent­mi­ha­lyi bis de Bono, um nur die schil­lernds­ten Autoren zu nen­nen. Nicht zuletzt haben auch wir in einer eige­nen psy­cho­lo­gi­schen Stu­die die Arbeits­weise von Berufs­krea­ti­ven unter die Lupe genommen.

Das Buch, das ich hier vor­stel­len möchte, beschäf­tigt sich mit einem nicht min­der wich­ti­gen Aspekt des Krea­ti­ven, der hand­werk­li­chen Seite und der Sys­te­ma­tik des Erfin­dens. Geschrie­ben von einem Mann, der sich damit aus­kennt. Diet­mar Zobel ist Prak­ti­ker, er hat viele Patente im Bereich Che­mie ange­mel­det, etwa 30 davon wer­den heute indus­tri­ell genutzt. Der Indus­trie­che­mi­ker Zobel gilt zudem als einer der pro­fi­lier­tes­ten Ken­ner der Erfin­dungs­me­thode TRIZ und gene­rell des sys­te­ma­ti­schen Erfin­dens (doch keine Angst, es geht im Fol­gen­den um sehr grund­le­gende und sehr nütz­li­che Prin­zi­pien, von denen alle pro­fi­tie­ren, die sich mit Ideen- oder Inno­va­ti­ons­ent­wick­lung beschäf­ti­gen oder ander­wei­tig krea­tiv arbei­ten, egal ob im Bereich Tech­nik oder Marketing).

Der Ver­lag hat mir das Rezen­si­ons­exem­plar bereits vor eini­gen Wochen zukom­men las­sen. Ich schreibe diese Rezen­sion daher aus eini­gem zeit­li­chen Abstand und aus mei­ner sehr sub­jek­ti­ven Warte aus. Hän­gen geblie­ben sind mir vor allem zwei zen­trale Begriffe bzw. Sätze: Zum Einen der „Träg­heits­vek­tor“ und zum Ande­ren die (hier sinn­ge­mäß wie­der­ge­ge­bene) Aus­sage „Eine gute Pro­blem­ana­lyse führt fast auto­ma­tisch auf den Weg zur rich­ti­gen Lösung“. Aber der Reihe nach:

Der Träg­heits­vek­tor

Der Träg­heits­vek­tor ist der Bereich im Such­feld mög­li­cher Lösun­gen, der nahe liegt, der bequem ist. Das sind die kon­ven­tio­nel­len Lösun­gen. Lösun­gen, die zuerst ein­fal­len und über die nur schwer hin­aus­zu­kom­men ist. Ein Attrak­tor, der alle Ideen unwei­ger­lich anzieht, je plan­lo­ser und unsys­te­ma­ti­scher das Vor­ge­hen ist. Mal eben ein „Brain­stor­ming“ zu machen, oder einen „Sprint“, macht dabei noch keine echte Sys­te­ma­tik. Hoch­wer­tige Lösun­gen lie­gen aber in ande­ren Qua­dran­ten des Such­felds, und auf die kommt man nur auf sys­te­ma­tisch-erfin­de­ri­schem Weg.

Viele der heute gän­gi­gen Kreativitäts-„Methoden“, vor allem Trial and Error oder Brain­stor­ming füh­ren nicht oder nur schwer aus dem Träg­heits­vek­tor hin­aus, andere nur teil­weise oder nicht kon­se­quent genug. Zobel schlägt daher einen ande­ren Weg vor. Der Königs­weg ist für ihn eine an die Grund­ge­dan­ken von TRIZ ange­lehnte Sys­te­ma­tik. TRIZ ist eine Erfin­dungs­me­thode, die auf Gen­rich S. Alt­schul­ler zurück­geht, und seit­her wei­ter­ent­wi­ckelt und modi­fi­ziert wurde. Alt­schul­ler war Sekre­tär im Patent­amt in der dama­li­gen Sowjet­union. Ihm war auf­ge­fal­len, dass sich in der Patent­li­te­ra­tur immer wie­der die glei­chen Prin­zi­pien fin­den, und aus die­sen Prin­zi­pien ent­wi­ckelte er seine „Methode  zur Lösung erfin­de­ri­scher Auf­ga­ben“ (s.a. der Blog­bei­trag zu TRIZ).

Pro­blem- und Systemanalyse

Ein zen­tra­ler Grund­ge­danke von TRIZ ist die Pro­blem- und Sys­tem­ana­lyse, die Ent­de­ckung, dass allen hoch­wer­ti­gen Erfin­dun­gen nicht nur ein genaues Ver­ständ­nis des Pro­blems vor­aus­geht, son­dern die Über­set­zung einer „ver­gif­te­ten Auf­ga­ben­stel­lung“ (nach H. J. Rind­fleisch) in die „eigent­li­che“ Auf­gabe. Es gilt nicht zu fra­gen, wie sich eine Maschine ver­bes­sern lässt, um z.B. ein Gut bes­ser von A nach B zu trans­por­tie­ren, son­dern danach, wie das ideale End­re­sul­tat aus­se­hen müsste (auch wenn dies in der Pra­xis nicht immer erreich­bar ist). Die­ses eigent­li­che Ziel könnte sein, dass der ganze Pro­zess effi­zi­en­ter, schnel­ler oder weni­ger stör­an­fäl­lig ablau­fen soll. Ideal wäre dem­nach, dass die Maschine gar nicht mehr als Maschine da ist, und das Gut etwa gleich am Ort A wei­ter­ver­ar­bei­tet wird, oder von A nach B her­un­ter­fällt. Der Ein­satz der Gra­vi­ta­tion bei die­ser zwei­ten Lösung ent­spricht übri­gens bereits einem der Erfin­dungs­prin­zi­pien, dem „Von Selbst“ Prinzip.

Aus die­sem zen­tra­len Gedan­ken las­sen sich – und zwar über­grei­fend für viele Anwen­dungs­be­rei­che in der Inno­va­ti­ons­ent­wick­lung – zwei Takea­ways ablei­ten: Sich immer genü­gend Zeit (mind. 50%) für die Sys­tem­ana­lyse neh­men, weil das ist bereits die halbe Miete, und: Eine (womög­lich „ver­gif­tete“) Auf­ga­ben­stel­lung – egal ob Inno­va­ti­ons­ziel oder For­schungs­brie­fing – zunächst in das „eigent­li­che Ziel“ über­set­zen. Dies gelingt über die Abs­trak­tion der ursprüng­li­chen Auf­gabe: Worum geht es hier im Grunde?

Erfin­dungs­prin­zi­pien

Das Buch geht natür­lich über diese bei­den Aspekte Träg­heits­vek­tor und Sys­tem­ana­lyse deut­lich hin­aus. Ein Herz­stück sind die Erfin­dungs­prin­zi­pien selbst, die der Autor ver­ständ­lich, anhand prak­ti­scher Inno­va­tions-Check­lis­ten und mit vie­len Bei­spie­len beschreibt, meis­tens aus dem tech­ni­schen Bereich. Eine Kost­probe: Das Erfin­dungs-Prin­zip „Impus­l­ar­bei­tende, inter­mit­tie­rende Arbeits­weise“ lässt sich am Bei­spiel Bügel­eisen ver­deut­li­chen: An die Ver­bes­se­rung eines Bügel­eisens wird ein para­do­xer Auf­trag gestellt – es soll leicht sein (Bedie­nungs­kom­fort) und schwer sein (um genü­gend Kraft zum Glät­ten auf­zu­brin­gen). Die Lösung ist ein leich­tes Bügel­eisen, das die Wäsche „glatt klopft“. 

Para­do­xien und Wider­sprü­che sind im übri­gen auch ein sogar wesent­li­ches Ele­ment der TRIZ-Sys­te­ma­tik – z.B. kann das ideale End­re­sul­tat auf einem sol­chen Wider­spruch basie­ren. Das ken­nen wir aus unse­rem Metier nur zur Genüge: Ein Pro­zess soll ver­bes­sert, also ver­än­dert wer­den, er darf aber nicht ver­än­dert wer­den (was spä­tes­tens deut­lich wird, wenn es um die kon­krete Umset­zung der Inno­va­tions-Ideen geht).

Über­set­zung auf andere Anwen­dungs­be­rei­che jen­seits der Technik

Zobel ist Che­mi­ker, viele Bei­spiele sind aus der Che­mie, die meis­ten aus dem tech­ni­schen Bereich – auch wenn sich ein Kapi­tel mit Humor, Satire und Kunst befasst. Die auf TRIZ zurück­ge­hen­den Grund­ge­dan­ken sind aber so grund­le­gend, dass sie sich auch auf andere Berei­che über­tra­gen oder über­set­zen las­sen. „Ganz ohne Phy­sik geht es nicht“ heißt eine Kapi­tel­über­schrift – wird die TRIZ-Sys­te­ma­tik z.B. auf Inno­va­ti­ons­ent­wick­lung für den Con­su­mer-Bereich über­setzt, könnte man erset­zen: „Ganz ohne Psy­cho­lo­gie geht es nicht“. 

Mit Insight­Art® arbei­ten wir selbst mit einer an TRIZ ange­lehn­ten Methode, um Pro­dukte, Dienst­leis­tun­gen oder Kom­mu­ni­ka­ti­ons-Stra­te­gien zu ent­wi­ckeln. Auch für uns ist es essen­ti­ell, eine Auf­ga­ben­stel­lung zunächst in die „eigent­li­che“ zu über­set­zen, so zu abs­tra­hie­ren, dass neue und hoch­wer­tige Lösun­gen ent­ste­hen kön­nen. Erst dann las­sen sich sinn­voll psy­cho­lo­gi­sche Erfin­dungs-Prin­zi­pien ein­set­zen, um aus dem Träg­heits­vek­tor her­aus­zu­kom­men (was übri­gens meist wirk­lich harte Arbeit bedeu­tet). Umge­kehrt zeigt dies, wie uni­ver­sell die Gedan­ken, Prin­zi­pien und Sys­te­ma­ti­ken sind, die im Buch beschrie­ben wer­den, auch wenn sie zunächst etwas nüch­tern-tech­nisch und nicht so sim­pel und „zau­ber­haft“ daher kom­men wie andere, gerade im Mar­ke­ting gehypte „Glau­bens­sätze“.

Mein Fazit: Gut zu lesen, kom­pe­tent, pra­xis­ori­en­tiert, und für jeden höchst rele­vant, der im Bereich Krea­ti­vi­tät und Inno­va­tion unter­wegs ist.

Zobel, Diet­mar: Von der Idee über die Erfin­dung zum PatentUTB GmbH, 2022

(ms)

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