Forschen wie da Vinci

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Dass es sehr ver­schie­dene Metho­den gibt, etwas zu erfor­schen, z.B. Expe­ri­ment, Beob­ach­tung oder Befra­gung, liegt daran, dass ver­schie­dene For­schungs­ziele auch ver­schie­dene Her­an­ge­hens­wei­sen benö­ti­gen. Dabei gibt es auch immer mal wie­der neue Metho­den, oder es wer­den alte neu ent­deckt, wie die künst­le­ri­sche For­schung.

War Leo­nardo da Vinci nicht die­ser Künst­ler aus der Renais­sance, der die berühmte Mona Lisa gemalt hat? Da hätte man doch eher den Titel „Malen oder Zeich­nen wie da Vinci“ erwar­tet. Jein. Da Vinci war auch ein genia­ler Erfin­der, z.B. vom Tau­cher­an­zug, Rotor bis hin zu Schleu­sen oder noch heute futu­ris­tisch anmu­ten­den Brü­cken — ein­fach mal nach „da Vinci-Brü­cke“ goo­geln. Was seine Erfin­dun­gen mit der Male­rei ver­band, waren seine etwa 6000 Skiz­zen nebst Erläu­te­run­gen in Spiegelschrift. 

Da Vin­cis Geheim­nis für inno­va­tive Ideen

Schaut man sich die Skiz­zen an, dann fin­det man dort z.B. Stu­dien zur Was­ser­be­we­gung — die detail­lierte Beschäf­ti­gung mit Stru­del­bil­dung war dann aus­schlag­ge­bend für die Ent­wick­lung einer tech­nisch sehr raf­fi­nier­ten Schleuse. Es gibt aber auch Mimik­stu­dien, bei denen er das schiefe Lächeln der Mona Lisa, das ihre geheim­nis­volle Wir­kung aus­macht, mit­hilfe von Skiz­zen erforschte, bevor er es malte. 

Von wegen Kunst macht man so aus dem Bauch her­aus — nicht so da Vinci und auch nicht viele andere Kunst­schaf­fende. Sowohl für die Ent­wick­lung sei­ner tech­ni­schen Erfin­dun­gen als auch für seine Gemälde hat er gleich­falls mit­hilfe von Anschauen und Skiz­zie­ren seine Umwelt zunächst genau erforscht. Die­ses For­schen mit den Sin­nen und den Hän­den, mit dem man sich Erkennt­nis kon­kret sinn­lich-gestal­tend erschließt, nennt man heute: Künst­le­ri­sche For­schung. 

Was ist Forschung?

Diese For­schungs­me­thode gab es in der Kunst immer schon. Dass es sich dabei um For­schung han­delt, ist aber lange nicht auf­ge­fal­len, obwohl zu da Vin­cis Zei­ten die Kunst mit ihrer sys­te­ma­ti­schen Natur­for­schung viel mehr Natur­wis­sen­schaft war als die dama­lige reli­giös ver­an­kerte Alche­mie. Gemäß der UNESCO-Defi­ni­tion ist For­schung „jede krea­tive sys­te­ma­ti­sche Betä­ti­gung zu dem Zweck, den Wis­sens­stand zu erwei­tern …“, was auf künst­le­ri­sche For­schung zutrifft. 

Ein sol­ches metho­di­sches Vor­ge­hen bie­tet sich für viele Berei­che an — im Grunde für alle Berei­che, in denen es um Sinn­li­ches geht und das trifft auf das meiste zu. Ganz beson­ders hilf­reich, siehe da Vinci, ist diese Methode aber für — oder inner­halb von — Ent­wick­lungs- und Erfin­dungs­pro­zesse. Das Kunst­werk, der Design­ent­wurf, das Musik­stück oder das neu erfun­dene tech­ni­sche Instru­ment ist dann das unmit­tel­bare Ergeb­nis der künst­le­ri­schen For­schung, so dass For­schen und Ent­wi­ckeln gar nicht mehr vor­ein­an­der getrennt sind.

Was künst­le­ri­sche For­schung anders kann

👉 Erleb­bare For­schungs­er­geb­nisse: Im Gegen­satz zu den meis­ten ande­ren For­schungs­me­tho­den, die all­ge­mein­gül­tige Gesetz­mä­ßig­kei­ten ermit­teln, eröff­net künst­le­ri­sche For­schung Erkennt­nis­räume als Erleb­nis­räume, in denen neue Per­spek­ti­ven, impli­zi­tes Wis­sen und ästhe­ti­sche Erfah­rungs­di­men­sio­nen sicht­bar werden. 

👉 Mög­lich­kei­ten statt unum­stöß­li­che Fak­ten: Erkennt­nis­räume sind keine fest­ge­zurr­ten und unum­stöß­li­chen Fak­ten, son­dern blei­ben Mög­lich­keits­räume, in denen auch ver­schie­dene Sicht­wei­sen neben­ein­an­der exis­tie­ren kön­nen, so wie man auch in jedem Kunst­werk etwas ande­res ent­de­cken kann. Mehr­deu­tig­kei­ten blei­ben erhal­ten und kön­nen pro­duk­tiv genutzt werden. 

👉 Kon­kret lösungs­ori­en­tiert statt gene­ra­li­sie­rend: Wäh­rend For­schungs­er­geb­nisse i.d.R. gene­ra­li­sie­ren sol­len, geht es bei neuen Ideen um ori­gi­nelle Ein­zig­ar­tig­keit oder eine bis­her noch nicht exis­tie­rende kon­krete Lösung. For­schung, die gene­ra­li­siert, führt von der kon­kre­ten Idee weg, wäh­rend künst­le­ri­sche For­schung immer kon­kret an kon­kre­ten Phä­no­me­nen bleibt, z.B. das Flie­ßen von Was­ser, so dass es unmit­tel­bar in kon­kre­ten Ideen, z.B. für eine Schleuse, mün­den kann.

👉 Fluide und offen: Bei der künst­le­ri­schen For­schung ent­steht auch kein end­gül­ti­ges wider­spruchs­freies Ergeb­nis, son­dern immer nur ein neuer Aus­gangs­punkt für wei­te­res For­schen und Entwickeln. 

👉 Fle­xi­bel anpass­bar: Künst­le­ri­sche For­schung ist nicht stan­dar­di­siert, son­dern passt sich im gesam­ten Pro­zess spie­le­risch dem Gegen­stand der For­schung an und hat damit eine Pro­zess­dy­na­mik, die sich naht­los in dyna­mi­sche Ent­wick­lungs­pro­zesse einfügt.

Berei­che, in denen künst­le­ri­sche For­schung ihr größ­tes Poten­zial hat

In der Design­ent­wick­lung, sowohl im Pro­dukt- als auch im Gra­fik­de­sign, ist die künst­le­ri­sche For­schung beson­ders hilf­reich. So kann man z.B. direkt mit Con­su­mern oder Usern gemein­sam Vor­stel­lungs­bil­der, Wunsch­orte oder Ent­würfe skiz­zie­ren — mit­hilfe von KI-Bild­ge­ne­ra­to­ren. Man kann sich zei­gen las­sen, wie man mit bestimm­ten Pro­duk­ten umgeht und den Bewe­gungs­ab­lauf skiz­zie­ren, um Pro­dukte ergo­no­misch bes­ser zu gestal­ten. Die Ergeb­nisse sol­cher For­schungs­pro­zesse sind dann auch schon Vor­skiz­zen für die Design­ent­würfe. Sie wer­den noch wei­ter bear­bei­tet, tra­gen aber schon die Grund­la­gen der Inno­va­tion erleb­bar in sich. 

Eine Neu­erfin­dung einer Was­ser­schleuse ist dann gut, wenn sie bes­ser, leich­ter, siche­rer etc. funk­tio­niert. Hat man es aber mit den Bedürf­nis­sen, Vor­lie­ben und Kauf- und Ver­wen­dungs­mo­ti­ven einer gan­zen Ziel­gruppe von Con­su­mern zu tun, braucht man auch die Erkennt­nis, wel­che Vor­stel­lun­gen eines bes­se­ren Pro­duk­tes sie gemein­sam haben. Ergänzt man die künst­le­ri­sche For­schung mit ande­ren Metho­den, die nach all­ge­mein­gül­ti­gen Gesetz­mä­ßig­kei­ten suchen, erhält man eine umfas­sende Grund­lage, um die ein­zel­nen Vor­skiz­zen aus den Vor­stel­lungs­bil­dern von ein­zel­nen Con­su­mern auch auf eine gesamte Ziel­gruppe ver­all­ge­mei­nern zu kön­nen. Man hat also nicht nur einen ori­gi­nel­len Ent­wurf ent­wi­ckelt, son­dern rich­tet sich daran aus, was die Vor­stel­lungs­bil­der der Con­su­mer gemein­sam haben. Und schon hat man Design­ent­würfe, die direkt aus den Vor­stel­lun­gen der Men­schen geschöpft wur­den, denen das Design das Leben ver­bes­sern oder berei­chern soll.

Künst­le­ri­sche For­schung schließt einen alten Graben

Künst­le­ri­sche For­schung hat sich bis­her noch nicht eta­bliert, denn das For­schen mit den Sin­nen und den Hän­den benö­tigt auch etwas andere Kom­pe­ten­zen der For­schen­den als andere For­schungs­me­tho­den. Sie löst aber den Gra­ben, der sonst zwi­schen For­schungs­er­geb­nis­sen und Inno­va­tion klafft, und es lohnt sich daher, sich damit zu befas­sen. Spä­tes­tens, wenn man schon ein­mal fest­ge­stellt hat, was sonst alles in die­sen Gra­ben fällt und ver­hin­dert, dass wert­volle For­schungs­er­geb­nisse nicht in die Inno­va­ti­ons­ent­wick­lung flie­ßen und dadurch viel Poten­zial für echte Lösun­gen ein­fach unge­nutzt bleibt.

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