Hamma kinne Hamma, näme mer dä Zang* – oder: Wieso eine bestimmte Logik des Denkens uns erst zu kreativen Wesen macht.
Googelt man den Begriff „Schlampiges Denken“, dann erhält man ausschließlich negativ konnotierte Verwendungen des Begriffs. Schlampiges Denken ist fehlerhaft, inkonsistent, unlogisch, stümperhaft, manchmal lustlos und unmotiviert. Da hat jemand geschludert. „Schlampig“, das klingt ja auch irgendwie fransig, ungenau, unordentlich und wenig erstrebenswert. Stattdessen sollte man doch lieber gewissenhaft, exakt, geradlinig, mit klarem Kopf und messerscharfem Verstand die Dinge konsequent zu Ende denken. Oder?
Dabei kommen wir ohne schlampiges Denken kaum durch den Alltag und durchs Leben. Vor allem, wenn es um kreative Prozesse geht, dann ist eine gewisse Pfuschigkeit des Denkens äußerst hilfreich, denn sie ermöglicht es erst, abwegige Zusammenhänge herzustellen, Dinge neu und anders zu sehen, beweglicher und plastischer an Probleme heranzugehen.
Ich gebe Ihnen einmal ein Beispiel für ein „Problem“, das Sie nur mit schlampigem Denken lösen können: Stellen Sie sich vor, die beiden Politiker Armin Laschet und Markus Söder sind beide die Zahl 10. Die 10 setzt sich aber unterschiedlich zusammen. Bei einem von beiden besteht die 10 aus 8+2, und beim anderen aus 7+3. Nun sind Sie dran: Welche 10 ist Laschet und welche Söder?
Schlampiges Denken ist eine Eigenart einer bestimmten Art, an Probleme heranzugehen, Zusammenhänge herzustellen, Ordnung zu schaffen, sich die Welt zu erschließen, für die es viele Namen gibt: Intuitiv, analogisch, lateral, konkret, transversal, mimetisch, sinnlich-gestalthaft, psychästhetisch, wild, traumlogisch u.v.m.: Ein Denken, das den Regeln der Wahrnehmung, der Sinne und der Körperlichkeit folgt und nicht denen der formalen Logik und der Verbalsprache, das vergleichend ist statt diskursiv – und damit einen anderen Modus darstellt von dem, was in der Psychologie Kognition genannt wird.
Ein zentrales Prinzip des analogischen, sinnlichen Denkens ist seine Unschärfe- und Ambiguitätstoleranz (im Englischen gibt es den Begriff fuzzy logic, klingt auch schön schlampig). Wir haben keine Skrupel, in der Ansicht eines Apfels einen Kreis zu erkennen, obwohl der Apfel nur mit bestem Willen – oder in fuzzy logic – als kreisförmig durchgeht. In diffusen Wolken erkennen wir Gesichter oder in der Werbeanzeige der Baumarktkette Ähnlichkeiten zu einer Helden-Geschichte. Hier ein Plakat, da ein Roman, das nehmen wir nicht so genau.
Dieses Denken in vagen Ähnlichkeiten – oder ‚Denken über den Rand‘ wie beim schlampigen Malen – ist es gerade, das uns mehr Spielraum verschafft. Will ich ein Bild aufhängen und habe keinen Hammer zur Hand, dann tut es auch etwas irgendwie Ähnliches, solange es schwer und hart ist und gut in der Hand liegt. Isomorphie, das Erkennen von Strukturähnlichkeit, funktioniert nur, wenn man es nicht so eng nimmt. In Köln sagt man: Hamma kinne Hamma, näme mer dä Zang.
Das Schöne daran ist: Lax denkend lassen sich auch Aufgaben und Lösungen in der Vorstellung zwanglos drehen und wenden. Läuft man mit einer kreativen Brille durch die Welt, kann man sich von allem möglichen und irgendwie-ungefähr-entfernt-Ähnlichem inspirieren lassen. Ganz nebenbei lässt sich ein riesiger Pool an Erinnerungen, Vorstellungen und Assoziationen nutzen, die dabei in uns einfallen, auch wenn sie nur entfernt etwas mit unserem Problem zu tun haben. Was soll’s. Wenn’s hilft?
Das Kriterium für einen guten Einfall ist dann nicht Richtigkeit sondern Stimmigkeit. Für die Aufgabe mit Laschet und Söder gibt es auch kein richtiges Ergebnis sondern nur ein stimmiges, und – würde man eine Umfrage draus machen – hätte man auch kein 100%-Ergebnis, denn Stimmigkeit ist nur ungefähr. Schlampig eben.
Natürlich sind für Kreativität noch weitere Aspekte wichtig, und schlampiges Denken bedeutet auch nicht, planlos und unsystematisch an Problemlösungen heranzugehen. Aber das ist ein anderes Thema.
Weiterführendes:
In unserer Studie „Psychologie der Kreativität“ beschreiben wir kreatives Denken u.a. als “schlampiges Denken”. Die Studie gibt es hier zum kostenlosen Download.
Den Begriff findet man u.E. erstmals in einem Buch von Ursula Brandstätter: “Erkenntnis durch Kunst. Theorie und Praxis der ästhetischen Transformation” (2013): “Daneben denken, schlampig denken, an den unscharfen Rändern denken — all diese Denkweisen eröffnen neue Denkräume abseits der fest umrissenen Grenzen des konventionalisierten Denkens” (S. 51). Brandstätter ist Rektorin der Anton Bruckner Privatuniversität für Musik, Schauspiel und Tanz in Linz/Österreich.
Der Begriff „Unschärfetoleranz“ des anschaulichen Denkens wurde u.E. von Max J. Kobbert in die Psychologie eingeführt, in Anlehnung an die Ausführungen des Gestaltpsychologen Rudolf Arnheim. Kobbert war bis 2009 Professor für Wahrnehmungspsychologie an der Kunstakademie Münster und der FH Münster im Fachbereich Design.
Ausführlich und mit Praxisbezug für Designer*innen beschreiben wir die Unschärfetoleranz auch in unserem Buch „Wie Design wirkt“ (hier ein kostenloses Probekapitel).
Die Idee der fuzzy logic geht bis auf Platon zurück, der damit Lösungen bezeichnete, die in einem dritten Bereich zwischen wahr und falsch liegen (und der damit in Widerspruch zu seinem Schüler, dem Formal-Logiker Aristoteles stand). Sie spielt heute im Bereich künstlicher Intelligenz eine wichtige Rolle.
Die Aufgabe mit den Politikern und der Zahl 10 ist inspiriert durch den Aufsatz “Inspiration” von Friedrich W. Heubach. Heubach war Psychologie-Professor an der Uni Köln (während meines Studiums dort) und anschließend an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg und der Kunstakademie Düsseldorf. Heubach war einer meiner wichtigsten Lehrer und hat uns auch bei INNCH als Supervisor unterstützt.
* Übersetzung für Nicht-Kölsche: “Haben wir keinen Hammer, nehmen wir die Zange”
(ms)