Muss Altes wirklich erst zerstört werden, bevor Neues entsteht?
„Zerstörung“ klingt schon ziemlich brachial, aber genau so hatte es Joseph Alois Schumpeter wohl auch gemeint. Als Volksökonom dachte er in größeren Zusammenhängen und tatsächlich an die Zerstörung ganzer Märkte. Die Beispiele sind bekannt. Kodak, denen das Geschäft im Bereich Fotofilme wegbrach, als sich die digitale Fotografie durchsetzte, oder der Handel mit Musik-CDs nach Etablierung der Streamingdienste. Solche Veränderungen zwingen gesamte Branchen, ihr Geschäftsmodell völlig neu zu gestalten, oder Geschichte zu werden.
Innovatoren oder Erfinderinnen haben i.d.R. nicht das Ziel, Märkte zu zerstören – das ist nur mitunter eine Folge von Innovation. Sie ist etwa dadurch entstanden, dass sie gewohnte Denkmuster infrage gestellt – nicht unbedingt brachial zerstört, aber aufgelöst hat. Müssen Fotos auf Papier belichtet werden? Muss Musik auf Tonträgern dargeboten werden? Muss man ein Auto besitzen, wenn es nur ab und zu gebraucht wird? Mit der Auflösung dessen, was als selbstverständlich geglaubt wird oder dem Hinterfragen von Gewissheiten nehmen viele Neuschöpfungen ihren Anfang. Das ist jedoch nicht so einfach.
Zerstörung von Gewissheiten ist nicht immer schöpferisch
Selbst Menschen, die immer offen für Neues sind und gerne neue Erfahrungen machen, bemerken oft gar nicht, wie sehr sie dennoch von Denkschemata und Handlungsroutinen bestimmt werden. Die Crux ist, dass die Bildung solcher Schemata bzw. Kategorien für das menschliche Orientieren, Denken und Handeln unerlässlich ist — wir können gar nicht ohne.
Wie groß die Irritation schon bei Abweichungen vom Gewohnten sein kann, hat vermutlich jeder schon in diversen Sanitär-Räumen in der Gastronomie oder Hotellerie erlebt, etwa beim Versuch, dem Waschbecken oder der Dusche fließendes Wasser zu entlocken. Man hat bereits überall drauf gedrückt, das im Entferntesten eine Taste sein könnte, mit den Armen gewedelt, um einen versteckten Bewegungssensor auszulösen … vielleicht muss man eine geheime Formel murmeln oder ein Gedicht aufsagen?
Dem modernen Armaturen-Design kann man sicher Innovation attestieren. Ärgerlich ist für die Nutzer*innen nur, dass nicht nur die Entwickler*innen innovativ waren, sondern eine innovative Denkleistung auch von den Nutzer*innen erwartet wird. Sie müssen nun mit kreativem Denken herausfinden, wie sie an fließendes Wasser kommen – eine Zumutung!
Man kann sich vorstellen, wie schwierig der Alltag wäre, würde man jeden Morgen aufwachen und hätte vergessen, wie man sich anzieht, wie eine Kaffeemaschine funktioniert, woran man einen Stuhl erkennt. Denkschemata und Handlungsroutinen machen also Sinn und sollten auch ausreichen, wenn man einfach nur fließendes Wasser haben möchte, und weil sie Sinn machen, fällt es schwer, sie zu zerstören, um Neues zu erfinden.
Auflösen, um Neues zu schaffen
Schaut man in die Wolken und sieht dort ein Gesicht, dann beruht auch das auf Kategorienbildung, die z.T. schon angeboren ist. Punkt, Punkt, Komma, Strich — in der passenden Position der Punkte und Striche – lässt uns schon unweigerlich ein Gesicht erkennen. Es rastet regelrecht in die Wahrnehmung ein und wir können, einmal eingerastet, nichts anderes mehr sehen als dieses Gesicht. Wolken sind jedoch sehr zuvorkommend, denn sie lösen sich von selbst auf. Schöpferische Zerstörung ist in Wolken quasi schon eingebaut.
Hat man lange in einer bestimmten Branche gearbeitet, sind nicht selten die Selbstverständlichkeiten so fest eingerastet — um nicht zu sagen eingerostet — dass die Auflösung nur mit viel Energie zu erreichen ist. Auch die Chaosforschung ist zu der Erkenntnis gekommen, dass Ordnung ganz von selbst entsteht (und einrastet), während Unordnung/ Chaos zu schaffen, viel Energie benötigt – das gilt übrigens leider nicht für das Aufräumen von Wohnungen.
Möchte man z.B. Mitarbeiter:innen dazu bewegen, Innovationen zu entwickeln, sollte man daher nicht daran sparen, Energie aufzuwenden, um für schöpferische Zerstörung zu sorgen. Sind die gewohnten Denkschemata erst einmal aufgelöst, entstehen neue Ideen wie von selbst – so wie man im Wolkengesicht, sobald es sich aufgelöst hat, plötzlich ein Pferd, eine Blume oder sonst etwas erkennen kann.
Verfahren für schöpferische Zerstörung in der Praxis
Ziel der schöpferischen Zerstörung ist es, Teilnehmer:innen an Innovationsprozessen in Unternehmen – z.B. in Form von Workshops – aus ihren gewohnten und im Arbeitsalltag durchaus hilfreichen Denkschemata heraus zu bringen. Man macht sich aber keine Freunde damit, Menschen zu irritieren und ihre Gewissheiten infrage zu stellen, siehe Armaturendesign. Daher ist es wichtig, die Mitarbeiter:innen darüber aufzuklären, warum man ihnen diese Irritation zumutet – am Ende sind sie meist dankbar dafür, weil es ihnen erst ermöglicht hat, über ihren Tellerrand hinauszudenken, garniert mit dem Glücksgefühl, das mit dem Aha-Moment einer guten Idee einhergeht. Am besten leitet man den Prozess als spielerisches Experimentieren wie eine Art Fantasiereise ein, mit dem Ehrenwort, dass man später wieder auf den Boden der Realität zurückkommt.
Im Folgenden werden 5 mögliche und von uns in der Praxis erprobte Techniken für eine schöpferische Zerstörung vorgestellt.
Science Fiction: Gemeinsam oder im Vorfeld wird eine Welt der Zukunft entwickelt. Diese sollte aber so angelegt sein, dass sie für den Produktbereich, für den Innovationen entwickelt werden sollen, eine Herausforderung darstellt.
Welt ohne Regeln und Grenzen: Statt einer Zukunftswelt kann dies auch eine Welt auf einem anderen Planeten sein, auf dem es z.B. keine Schwerkraft gibt, Geld keine Rolle spielt etc.
Verbot der engeren Produktgruppe: Wurden zuvor Bedürfnisse, Motive und Probleme der Zielgruppe des Produktes ermittelt, wird die Aufgabe gestellt: Erfinden Sie etwas zur Bedürfniserfüllung oder Lösung, wenn die engere Produktgruppe, z.B. Autos, verboten ist. Man kann das bei Bedarf auch weiter fassen, so dass auch Busse, Motorräder etc. verboten sind, bis hin zum Verbot sämtlicher Mobilität.
Analogietransfer: Es werden visionäre Ideen für einen ganz anderen Bereich entwickelt, der sich entweder auf den gesuchten Bereich übertragen lässt, oder der in Bezug auf Bedürfnisse, Motive und Probleme der Zielgruppe ähnlich gelagert ist, z.B. beim Thema Mobilität: Ein Tier züchten, das optimal mobil ist.
Apollo 13: „Houston, wir haben ein Problem“: Das Problem auf der Apollo 13 konnte nur mit den in der Raumkapsel vorhandenen Mitteln gelöst werden. Ersatzteile von Außerhalb gab es nicht. Hier muss zuvor überlegt werden, welche fiktive Situation zielführend ist. Dies könnte sein, dass sich das Problem nur mit den Mitteln lösen lässt, die sich im Raum befinden, oder auch eine Robinson-Insel oder ähnliches.
Und weiter?
Die Ideen aus der schöpferischen Zerstörung dienen später als Grundlage für die Entwicklung realistischerer Ideen. Der Vorteil ist, dass sich die Teilnehmenden nicht mehr mühsam aus dem Status Quo in visionärere Gefilde bewegen müssen, sondern umgekehrt schon aus einer visionären Welt kommen. Man hat also schon über den Tellerrand geblickt und kann daraus schöpfen.
Dennoch muss man auf der Hut sein, dass sich die Teilnehmenden nicht zu stark zum Status Quo zurückziehen lassen. In diesem Fall lassen sich auch im weiteren Prozess Interventionen zur schöpferischen Zerstörung durchführen, die wieder mehr in die visionäre Welt zurückführen. Eine solche Intervention kann z.B. darin bestehen, in der konkreten Konzeptentwicklungsphase etwas zu verbieten, oder indem scheinbar unmögliche Bedingungen gesetzt werden, z.B.: „Das Fahrzeug darf keine Räder/ keinen Motor etc. haben.“
Hängen die Teilnehmenden zu sehr an einer wenig visionären Idee fest oder verlieren sich in Details, kann die Moderation immer noch „Tabula Rasa“ ausrufen. Die Gruppe muss dann ganz von vorne anfangen.